Propriozeptives Training

Training auf instabilen Untergründen wie Weichmatte, Schaumkissen, Trampolin, Wackelbrettern etc. ist ­insbesondere im Bereich der Prävention und Rehabilitation weit verbreitetet.

Traditionsgemäß werden solche Maßnahmen als „Training der Propriozeption“ bezeichnet. Der Propriozeptionsbegriff geht ursprünglich auf Sherrington zurück und beschreibt die Fähigkeit, den Zustand sowie die Veränderung von Gelenkwinkelpositionen über spezialisierte Sensoren (Propriozeptoren) zu erfassen. Bezug nehmend auf die ­ursprüngliche Definition bezieht sich Propriozeption somit nur auf afferente Vorgänge (Erfassung/Wahrnehmung) und nicht direkt sondern nur in deren Konsequenz auf die muskuläre An­steuerung (efferente Abläufe). Eine Beurteilung der propriozeptiven Leistung kann dementsprechend auch nicht ­erfolgen, wenn koordinativ anspruchsvolle Bewegungen – wie bspw. der ­Einbeinstand auf einem instabilem ­Untergrund – durchgeführt werden.

Bei diesen Bewegungsabläufen sind afferente und efferente Anteile eng mitein­ander verknüpft, wodurch keine Differenzierung möglich ist, ob die Leistungs­erbringung bzw. deren Veränderung ­primär auf den einen (Wahrnehmung) oder anderen (Ausführung) Teil zurückzuführen ist. In Konsequenz werden zur Beurteilung des propriozeptiven Leistungsvermögens gegenwärtig Verfahren eingesetzt, bei denen ein Körpersegment bzw. Gelenk passiv bewegt wird (keine efferenten Anteile) oder einfache, eingelenkige Bewegungsabläufe ohne komplexe efferente Anteile durch­geführt werden (Abb. 1 und 2). Die Parametrisierung der propriozeptiven Leistung erfolgt in diesen Tests anhand der ­Genauigkeit der Reproduktion spezieller Gelenkwinkel oder anhand des Schwellwertes, ab wann eine Bewegung wahrgenommen werden kann.

Infolge der komplexen Interaktionsstruktur zwischen Afferenz und Efferenz und den damit zusammenhängenden Quantifizierungsmöglichkeiten ist es unklar, ob bei Nutzung der oben angeführten Trainingsmittel (Wackelbretter etc.) eine optimierte propriozeptive Leistungsfähigkeit – wie es der ­Begriff des „Propriozeptiven Trainings“ suggeriert – resultiert, selbst wenn Verbesserungen in der komplexen motorischen Leistung (z.?B. im Bereich des Gleichgewichts) häufig erzielt werden. Eigene Untersuchungen mit gesunden Athleten als auch mit Parkinson-Patienten geben keine Hinweise auf trainingsbedingte propriozeptive Anpassungen. So zeigten beide Gruppen zwar deutlich verbesserte Leistungen in der posturalen Kontrolle nach einem Training mit mechanischen Schwingungsreizen, allerdings ließen sich keine Veränderungen in der Reproduktion von Gelenkwinkelverläufen im Knie­gelenk identifizieren.

Folglich erscheint die Überprüfung derjenigen Prozesse, die der Veränderung komplexer motorischere Abläufe zugrunde liegen sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Propriozeptiven Trainings“ sinnvoll. Zwar kann die Sensitivität der zur Gruppe der Propriozeptoren gehörenden Muskelspindeln über eine Innervation verändert werden, weshalb auch entsprechende Trainingseffekte vorstellbar sind. Gleichwohl entsteht bei einem Bewegungsablauf generell ein multimodales Set an afferenten Rückmeldungen.

Obwohl es zahlreiche ­Hinweise gibt, dass propriozeptive Afferenzen mit koordinativen Leistungen in einem hohen Zusammenhang stehen – so konnten bspw. bei Patienten mit vorderer Kreuzbandruptur signifikant schlechtere Sprungleistungen auf der läsionierten Seite als auch schlechtere Leistungen in propriozeptiven Tests (Gelenkwinkelreproduktion, Wahrnehmungsschwelle) identifiziert werden – ist es unwahrscheinlich, dass sich der Mensch bei komplexen motorischen Steuerungsaufgaben auf eine singuläre afferente Modalität (Propriozeption) verlässt, da die Gewinnung von Informationen über die Positionierung im Raum stark eingeschränkt wäre.

Aus Gründen einer limitierten Verarbeitungskapazität afferenter Informationen kann zwar davon ausgegangen werden, dass bei bestimmten Bewegungsab­läufen einzelne sensorische Informationen dominieren, allerdings gibt es keine Hin­weise, dass dies zwangsweise und generell propriozeptive Signale sein müssen. Zudem ist bekannt, dass zwischen verschiedenen Sensoren Rückwirkungsmechanismen bestehen. So kann bspw. ein Reset der Dehnungsreflexschwelle durch vestibuläre Afferenzen erfolgen. Infolge dieser Konstellation muss die Beibehaltung des Begriffes „Propriozeptives Training“ in Frage gestellt werden.
Es scheint vielmehr wahrscheinlich, dass in den Trainings- und Lernphasen ein beständiger Abgleich der zur Verfügung stehenden afferenten Signalen erfolgt, um funktionale Synergien (conceptual chunking) bilden zu können und die zukünftigen Kontrollanforderungen zu vereinfachen.

Neben dem Aspekt welche sensorische Informationen bei welchen ­Bewegungsabläufen verarbeitet werden, stellt sich aus praktisch-präventiver Sicht vor allem die Frage, wie schnell Informationen über die Position im Raum in eine funktionale muskuläre Aktion umgesetzt werden können. Ein Charakteristikum verletzungsrelevanter Situationen sind ballistische Krafteinwirkungen, sodass nur kurze Zeitfenster zur Verfügung stehen, um muskuläre Schutzkontraktionen zu generieren, die läsionierenden Effekten entgegenwirken. Werden im Training jeweils eher langsame Bewegungsabläufe trainiert, wie bspw. das Stehen auf verschiedenen Therapiekreiseln, so gewöhnt sich der Trainierende daran, dass lange Korrekturzeiträume (> 400 ms) zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit in kritischen Situationen auf schnelle ­Korrekturmechanismen umzuschalten, wird dadurch reduziert.

Autoren: Dr. Christian T. Haas, Prof. Dr. Dietmar Schmidtbleicher

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