Läufer und die Wirbelsäule

Läufer hören zur Problematik Wirbelsäule üblicherweise zwei stereotype Aussagen:

  1. Gesunde Gelenke und auch eine gesunde Wirbelsäule werden durch einen vernünftig betriebenen Laufsport definitiv nicht geschädigt.
  2. Rückenprobleme sind eine Volkskrankheit. Durch Laufsport werden sie in der Regel wegen der zusätzlichen Belastung verstärkt.

Als Läufer denkt man sich da meist: Ich bin gesund – was sollen schon für Probleme auftreten? Und viele Menschen, die durch häufiges Arbeiten im Sitzen (z.B. am PC) an verspannter Rückenmuskulatur leiden, können ihre Beschwerden durch ein Lauftraining bessern oder beseitigen. Bewegung ist grundsätzlich das Beste, was man dem Rücken bieten kann. Stauchungen, schädliche Rotationsbewegungen und Überstreckungen der Wirbelsäule bleiben beim langsamen Laufen aus, sodass es zu einer Förderung der Bandscheibenernährung und positiven Anpassungen sowohl des aktiven als auch des passiven Bewegungsapparates kommt.

Allerdings ist es auch wieder so, dass 15–20 % aller Läufer angeben, beim oder nach dem Laufen Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule zu haben. Häufig verkanten bei einer plötzlichen Dreh- oder Beugebewegung kleine Wirbelgelenke und schon wird die Muskulatur hart. Gleichzeitig werden dabei die zahlreich von der Wirbelsäule ausgehenden Nerven schmerzhaft gereizt. Auch der so genannte Hexenschuss ist meist nichts anderes als eine sehr plötzlich einsetzende Muskelverhärtung, die durch eine „falsche Bewegung“ ausgelöst wird.

Hohe Beanspruchungen

Untersuchungen haben gezeigt, dass nahezu alle dieser Läufer entweder eine unterentwickelte Rumpfmuskulatur hatten oder aber ausgeprägte muskuläre Dysbalancen (z.B. eine gut ausgebildete Rückenmuskulatur bei einer sehr
schwachen Bauchmuskulatur), sodass die Wirbelsäule nicht ausreichend muskulär geschützt ist. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die relevanten Muskelgruppen beim normalen Gehen Kräfte aufnehmen, die in etwa dem 2-Fachen des Körpergewichts entsprechen. Man kann sich leicht vorstellen, dass sich die einwirkenden Kräfte beim Laufen deutlich steigern. Denn jetzt muss die Muskulatur in der Lage sein, das zum Boden beschleunigte Körpergewicht abzufangen. Je nach Konstitution des Läufers und dessen Laufstil wirken jetzt Kräfte in der Größe des 3- bis 4-fachen Körpergewichts. Das bedeutet für die passiven wie aktiven Strukturen des Stütz- und Bewegungsapparates und hier insbesondere der Wirbelsäule hohe Beanspruchungen.

Der aufrechte Gang bringt eine starke Belastung der Wirbelsäule mit sich. Jeder Schritt löst eine Stoßwelle aus, die sich über die Wirbelsäule bis zum Schädel ausbreitet. Marathonläufer sind bei der Zielankunft bis zu 3 Zentimeter kleiner als vor dem Lauf. Die Ursache dafür liegt darin, dass durch die Stöße, die beim Laufen auf die Wirbelsäule einwirken, die Bandscheiben Flüssigkeit verlieren und so an Höhe einbüßen. Das Resultat ist eine Verminderung der Stoßdämpfung. Im kleineren Ausmaß findet dieser Vorgang bei jedem Lauftraining statt. Eine gut entwickelte Muskulatur kann die Bandscheiben und Wirbelgelenke vor Überlastung schützen. Ermüdet die Muskulatur, so verliert sie diese Fähigkeit.

Je trainierter die Muskulatur, umso länger profitieren Sie beim Laufen von diesem Federungseffekt. Durch ein gezieltes Training der Rumpfmuskulatur (Bauchund Rückenmuskulatur) wird die Widerstandsfähigkeit des Bindegewebes, besonders der beteiligten passiven Strukturen, deutlich verbessert und die notwendige Kraft bzw. lokale Ausdauer der stabilisierenden Rumpfmuskulatur erhöht. Dies ist der beste Schutz gegen die Überlastungserscheinungen und Dekompensation.

Starke Rumpfmuskulatur

Wer nur läuft, spricht auch nur ganz bestimmte Muskelgruppen an. Die Bauch- und Rückenmuskulatur wird meist vernachlässigt. Kräftigungsübungen und Stretching auch von Hüft-, Bauch- und Rückenmuskulatur sollten deshalb zum Standardprogramm eines jeden Läufers gehören und mehrmals pro Woche durchgeführt werden. Die Kunst ist hier, die tief liegende, wirbelsäulennahe Muskulatur zu erreichen und nicht die oberflächlich liegenden Muskelgruppen, welche die großen Körperbewegungen durchführen. Denn es ist die tiefe Muskulatur, die für die Stabilisation der Wirbelsäule verantwortlich ist. Einen weiteren positiven Aspekt einer starken Rumpfmuskulatur stellt die Verbesserung der sportlichen Leistung dar. Diese resultiert aus einer stabilen Laufhaltung, die erst einen ökonomischen Laufstiel ermöglicht.

Um die von den Beinen entwickelten Impulse bzw. Kräfte möglichst trägheitsfrei in Bewegung umsetzen zu können, muss der Rumpf stabil über der Abstützfläche z.B. des Fußes gehalten werden. Wird der Rumpf zu weit nach vorn, hinten oder zur Seite geneigt, kommt es im Extremfall zum Sturz, in jedem Fall aber zu einer verzögerten Bewegung, d. h. zu einer verminderten Leistung. Die für diese Rumpfhaltung erforderliche Stabilität garantiert nicht nur das Knochenskelett, sondern im gleichen Ausmaß auch die Muskulatur, die die Wirbelsäule gegen das Becken und den Schultergürtel verspannt. Dabei spielen die Rücken- und die Bauchmuskulatur die Hauptrollen. Somit sind zwei herausragende Vorteile einer starken wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur im Laufsport bekannt: Prävention von Rückenbeschwerden sowie eine Verbesserung der sportlichen Leistung.

Die Kräftigungsübungen müssen konsequent in das Trainingsprogramm eingebaut und sollten zwei- bis dreimal pro Woche, jeweils 10 bis 20 Minuten lang, durchgeführt werden. Ich empfehle immer, die Übungen im Anschluss an lockere, nicht zu lange Läufe durchzuführen, gleich nach dem Dehnen. Da ist man noch im Sport drinnen – und hat auch keine Ausrede, dass es sich zeitlich halt mal wieder nicht ausgegangen ist. Das Übungsprogramm sollte man am besten unter Anleitung eines Physiotherapeuten oder eines Fitnesstrainers erstellen. Weniger geeignet ist der Laufsport für stark übergewichtige Menschen. Hier drohen nahezu immer Probleme mit der Wirbelsäule und den Gelenken. Wie sieht es aber aus, wenn man Bandscheibenprobleme hat? Bei einem „runden“ Laufstiel auf weichem Untergrund (Waldboden) und mit guten Laufschuhen spricht auch hier nichts gegen moderates Laufen.

Empfehlenswert ist es hier, das Lauftraining zunächst unter fachkundiger Anleitung zu absolvieren. Bei akuten Beschwerden sowie bei einer neurologischen Symptomatik (ausstrahlende Schmerzen in das Bein, Kribbeln, Taubheit) ist jedoch von einem Lauftraining abzuraten. Nach Abklingen der akuten Symptomatik (z. B. nach einem Bandscheibenvorfall) sollte vor Aufnahme eines Lauftrainings zunächst ebenfalls ein zielgerichtetes Training der Rumpfmuskulatur (Bauch und Rückenmuskulatur, Rumpfrotatoren) erfolgen, ergänzt durch Dehnübungen. Es gibt aber auch andere Wirbelsäulenerkrankungen.

In Abhängigkeit von der Art der Beschwerden kann Laufsport nicht uneingeschränkt empfohlen werden, da Laufen mit Stauchungsbelastungen für die Gelenke und vor allem für die Wirbelsäule verbunden ist. Diese erhöhten Belastungen werden bei vorgeschädigten Strukturen der Wirbelsäule möglicherweise nicht toleriert und könnten dann zu einer Verstärkung der Schmerzsymptomatik führen. Bei Wirbelsäulenproblemen sollte unbedingt mit dem behandelnden Arzt abgeklärt werden, ob Laufen generell erlaubt ist.

Autor: Prof. Dr. Christian Gäbler

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