Ermüdungsbruch

Im Jahre 1855 diagnostizierte der preußische Militärarzt Breithaupt bei Soldaten als Folge einer chronischen Überlastung des Fußskeletts eine besondere Form des Mittelfußbruchs – und bezeichnete sie folgerichtig als „Marschfraktur“. Schon damals erkannte er eine sportmedizinische Problematik, die heutzutage nicht nur Ausdauersportler immer öfter zu Patienten macht, Frauen häufiger als Männer (Abb.1).

Sport als Stress für den Knochen

Bei einer dauerhaften Überbeanspruchung des Skeletts kommt es – nicht nur bei Sportlern – zu einer Stressreaktion des Knochens mit potenziell reversibler Umwandlung der Spongiosa, also des Knocheninneren (Abb. 2). Sofern die Belastung dann nicht reduziert wird, beispielsweise das Training für einen Marathonlauf, entsteht daraus die Stressfraktur, bei der definitionsgemäß auch die äußere Knochenschicht, die Kortikalis, unterbrochen ist (Abb. 3). Im Gegensatz zum „echten“ Knochenbruch, der akut beispielsweise als Folge eines Sturzes auftritt, entwickelt sich die Stressfraktur über einen längeren Zeitraum – andere geläufige Termini sind daher „schleichende Fraktur“ oder „Ermüdungsbruch“.

Wen erwischt’s – und wo?

Die meisten Stressfrakturen ereignen sich an der unteren Extremität, zumindest bei Erwachsenen. Das Schienbein und der Fuß sind mit insgesamt 75 – 85 % die häufigsten Lokalisationen. Dementsprechend sind etwa 70 % der Betroffenen Läuferinnen und Läufer. Ermüdungsbrüche gibt es aber auch z.B. bei Ballsportlern, Balletttänzerinnen („Ballerina-Fraktur“, „Tänzer-Fraktur“), Gymnastinnen (rhythmische Sportgymnastik) oder Radfahrern. Selten entstehen Stressfrakturen an der oberen Extremität, beispielsweise am Ellenhaken bei Baseball-Pitchern und Speerwerfern oder an der handgelenknahen Speiche und Elle als Folge einer chronischen Traumatisierung im Tennis.

Die Ermüdungsfraktur des Wirbelbogens mit konsekutivem Wirbelgleiten (Spondylolisthese) kann Folge einer sportlichen Überlastung der Wirbelsäule sein, z.B. durch Delphinschwimmen, Gewichtheben, Geräteturnen oder Turm- und Trampolinspringen. Golfspielen kann zu Ermüdungsbrüchen an den Rippen führen. Bei Kindern und Jugendlichen betreffen Stressreaktionen und -frakturen einerseits die Epiphysenfugen, also die eigentlichen Wachstumsfugen der Knochen, z.B. an der handgelenknahen Elle oder der Speiche bei jungen Leistungsturnerinnen bzw. -turnern. Andererseits sind im Wachstumsalter Ausrisse der Apophysen möglich.

Letztere sind nicht am Längenwachstum beteiligt, sondern Knochenkerne, die bei Jüngeren zunächst noch aus Knorpel bestehen und Muskeln bzw. Sehnen als Ursprung bzw. Ansatz dienen, beispielsweise am hüftnahen Oberschenkel sowie Becken. Viele Fragen zur Entstehung sind bis heute nicht wissenschaftlich geklärt. Als Risikofaktoren gelten individuelle, hormonelle und mechanische Parameter und zwar u.a. falsche oder zu hohe Trainings- und Wettkampfbelastung, ungünstige Rahmenbedingungen wie zu harter Bodenbelag oder falsches Schuhwerk (auch „abgelaufene“ Laufschuhe), anatomische Fehlformen wie Hohlfuß oder X-Bein sowie pathologische Veränderungen des Knochenstoffwechsels (Osteoporose) und des Hormonhaushalts. Besonders problematisch sind in diesem Kontext Essstörungen vor allem bei weiblichen Athleten – nicht nur in der Pubertät.

Diagnose – daran denken ist entscheidend!

Die Symptome sind eher unspezifisch. Je nach Lokalisation besteht manchmal eine Schwellung. Der Arzt wird in der Regel wegen Schmerzen kontaktiert, die in der Frühphase nur unter Belastung auftreten. Dementsprechend können die Probleme Wochen oder sogar Monate zuvor begonnen haben. Manchmal wird über ein mehr oder weniger akutes Ereignis berichtet, beispielsweise das „Vertreten“ des Fußes bei einer Jones-Fraktur (Abb. 3, 4).

Dieses Geschehen ist dann aber letztendlich nur der „Tropfen, der zum Überlaufen des Fasses geführt hat“. Aufgrund der oft unspektakulären Vorgeschichte wird die richtige Diagnose häufig zunächst nicht gestellt. Gängige Fehlinterpretationen sind „Verstauchung“, „Prellung“, „Überlastung“, „Sehnenscheidenentzündung“ oder „Knochenhautentzündung“. Dies liegt auch daran, dass die zuerst durchgeführte Röntgendiagnostik anfangs meist keinen Befund liefert und sich im Röntgenbild erst Veränderungen zeigen, wenn Umbau -und Heilungsvorgänge des Knochens stattgefunden haben. Die Frühdiagnose gelingt durch eine Kernspintomografie (Magnetresonanztomografie, MRT), mit der bereits bei einer Stressreaktion ein Knochenödem („Bone bruise“) nachweisbar ist, oder in einem späteren Stadium die Fraktur.

Die MRT eignet sich auch zur Verlaufskontrolle und wird heute nicht zuletzt aus Strahlenschutzgründen gegenüber der Knochenszintigrafie bevorzugt, bei der sich das injizierte Radiopharmakon in der geschädigten Knochenregion anreichert. Die Szintigrafie hat aber ihre Berechtigung beispielsweise bei polytopen Stressfrakturen, wenn bei einem Sportler innerhalb kurzer Zeit Ermüdungsbrüche in mehreren Skelettabschnitten auftreten. Gelegentlich ist auch eine Computertomografie sinnvoll, zum Beispiel zur Operationsplanung. Laboruntersuchungen zeigen bei einem Ermüdungsbruch keine spezifischen Ver- änderungen, können aber Erkrankungen des Knochenstoffwechsels und hormonelle Störungen aufdecken. Weitere Differenzialdiagnosen sind andere Knochenprozesse, z.B. Osteonekrosen, Tumoren, die Osteitis, aber auch Weichteilveränderungen wie Sehnenscheiden-entzündung, Muskelfaserriss oder Thrombose.

Therapie? Belastungsreduktion entscheidend!

Die Stressreaktion oder -fraktur ist als Notsignal des Skeletts zu verstehen, gleichsam das „SOS des Knochens“, ein Versuch der Selbsthilfe. Dementsprechend gilt es, der sportbedingten Überlastung ein Ende zu gebieten. Dies bedeutet, der Sportlerin oder dem Sportler eine oft mehrwöchige Trainings- und Wettkampfpause bei weitgehend normaler Alltagsaktivität zu verordnen, was verständlicherweise nur widerwillig akzeptiert wird. Eine Ruhigstellung im Gips- oder Kunststoffverband ist die Ausnahme; sie erfordert aber an der unteren Extremität – ebenso wie die Entlastung an Gehstützen – eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mit Heparinspritzen (z.B. Clexane®).

Die Therapie muss auch potenzielle Ursachen außerhalb des Sports berücksichtigen, z.B. Magersucht („Anorexia athletica“) oder Osteoporose. Bei medikamentöser Behandlung – z.B. von hormonellen Störungen – müssen die Anti-Doping- Richtlinien beachtet werden. Operiert wird nur bei Ermüdungsbrüchen mit bekannt schlechter Heilungstendenz, sog. „High-risk-fractures“, zum Beispiel am Oberschenkelhals oder an der Basis des fünften Mittelfußknochens (Jones- Fraktur, Abb. 4).

Risikofaktoren erkennen und beseitigen!

Wie bereits eingangs erwähnt, gibt es verschiedene intrinsische (innere) und extrinsische (äußere) Ursachen für die Entstehung von Stressfrakturen. Zwar ist es bis heute nicht möglich, ein individuelles Risikoprofil zu erstellen. Dennoch sollte versucht werden, Risikofaktoren so weit möglich zu beseitigen. Dazu gehören unter anderem die Optimierung des Trainings und der Ausstattung, z.B. adäquates Schuhwerk oder eventuell Einlagen. Als vorbeugend gelten auch eine gute Koordination und muskuläre Stabilisierung des Knochens und der Gelenke.

Nicht zuletzt sind ausreichend lange Regenerationsphasen wichtig (Schlaf!). Schwierig wird die Prävention bei Sportlerinnen und Sportlern mit Ess- und Ernährungsstörungen, beispielsweise in figur- oder gewichtsbetonten Sportarten wie Eiskunstlauf oder Skispringen („Leicht fliegt weit. Leichter fliegt noch weiter.“)

Fazit

Eine besondere Form von Stress beim Sport ist der Ermüdungsbruch. Dessen Erkennung sowie Behandlung ist eine anspruchsvolle sportmedizinische Aufgabe, zu der immer auch die Ausschaltung von potenziellen Risikofaktoren gehört. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit mit den betroffenen Sportlern und deren Trainern, bei Kindern und Jugendlichen die Einbeziehung der Eltern.

Autor: Prof. Dr. med. Horst Rieger

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