Erosive Osteochondrose

Die Wirbelsäule als zentrale Bewegungseinheit des Körpers ist an allen Bewegungen des Sportlers beteiligt. Sie bildet eine stabile Achse und ist dabei sehr elastisch.

Und wie in der Technik gilt beim Körper: je komplizierter ein Mechanismus ist, desto anfälliger ist er. In der Verletzungsstatistik der verschiedenen Sportarten zeigt sich zwar, dass – abgesehen vielleicht von Risikosportarten – akute Verletzungen der­ ­Wirbelsäule sehr selten sind, dafür sind aber chronische Verschleißerkrankungen wesentlich häufiger.

So sind je nach Sportart zwischen 10 und 44% der chronischen Verletzungen wirbelsäulenbedingt. Den Wirbelsäulenverschleiß begüns­tigend sind insbesondere Sprungsportarten (Basketball, Handball, Beachvolleyball, Volleyball, verschiedene Leichtathletikdisziplinen), Sportarten mit Rotations­bewegungen der Schulter- gegenüber der Beckenachse (Tennis, Tischtennis, Badminton, Golf, Wurfdiszi­plinen, Kanu, Hockey, Handball, Beachvolleyball, Volleyball) sowie Sportarten mit Bewegungen in das Hohlkreuz hinein (Turnen, Butterflyschwimmen, Ringen, Beachvolleyball, Volleyball).

Bei Gewichthebern sind Wirbelsäulen­verletzungen und – ver­schleiß­er­kran­­kungen dagegen selten. Die Lendenwirbelsäule (LWS) ist häufigste Lokalisations­höhe der chronischen Wirbelsäulenverschleißerkrankungen bei (Leistungs-)Sportlern. Belastungs­ab­häng­ig­ können die Wirbelkörper, die Wirbelbögen, die Dornfortsätze, die Bandscheiben oder die kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke) betroffen sein. Die hervorgerufenen Symptome zeigen ein charakteristisches Bild abhängig von der jeweils geschädigten anatomischen Struktur. Die wichtigsten Verschleißerkrankungen der LWS sollen im Folgenden dargestellt werden.

Bandscheibenschäden

Rückenbeschwerden werden im Bewusstsein vieler Sportler mit der emotional negativ besetzten Diagnose „Bandscheibenvorfall“ gleichgesetzt. Bandscheiben- veränderungen sind bei Sportlern und Nichtsportlern in der Tat recht häufig. Richtig behandelt heilt ein Nucleus-Pulposus-Prolaps (sog. Bandscheibenvorfall) jedoch gut aus. Initiales Leitsymptom ist ein meist plötzlich mittig in den Rücken einschießender Schmerz.

Nach einigen Tagen, in manchen Fällen auch früher, zeigt sich eine sog. radikuläre Symptomatik mit Schmerzausstrahlung entlang des Ischiasnervs in ein Bein hinein, manchmal mit neurologischen Defiziten wie Taubheitsgefühl und/oder Kraftlähmung. Die Therapie besteht in der Regel zunächst aus gezielten Injektionen (PRTs CT-gesteuerte Wurzelinfiltration „PeriRadikuläre Therapie) und Medikamenten (erste Phase), nach Besserung der Schmerzen aus gezielter Physiotherapie (zweite Phase) und aus individuell ausgerichteten Kräftigungs- und Koordinationsübungen (dritte Phase). Frühzeitige Bewegung als wesentliche therapeutische Grundstrategie ist hier für eine gute Prognose essenziell.

Facettenarthrose

Arthrosen der kleinen Wirbelgelenke, auch Facettenarthrosen oder Spondylarthrosen genannt, sind weit häufiger als Ursache von Wirbelsäulenbeschwerden anzusehen als zumeist angenommen. Bei forcierter Belastung des hinteren Abschnittes der Wirbelsäule, bspw. bei erheblicher Hohlkreuzlast, beim Zusammensinken der Bandscheibe oder bei mangelnder muskulärer Stabilität werden die ­Gelenkflächen der kleinen Wirbelgelenke überstrapaziert, nutzen ab und reiben aufeinander. Die Facettensyndrome bezeichnen so genannte pseudoradikuläre Symptome.

Die Schmerzen sind wie bei einer radikulären Reizung ebenfalls in der unteren Lendenwirbelsäule lokalisiert, begleitet von einem Schmerz wie „dass der Rücken durchbricht“. Auch finden sich ebenso häufig ausstrahlende Schmerzen in die Beine. Im Gegensatz zum „echten“ Wurzelreizsyndrom sind beim Facettensyndrom aber oft beide Beine betroffen und die Schmerzausstrahlung entspricht nicht genau dem anatomischen Verlauf der gereizten Nerven (daher „pseudo-radikulär“). Typischerweise zeigen sich insbesondere morgens tief sitzende Rückenschmerzen, die Patienten können sich nicht vornüberbeugen. Die Beschwerden bessern sich durch Bewegung und verschwinden in der Regel beim Sport.

Langsames Gehen wie beim Einkaufsbummel und langes Stehen verschlechtert dagegen die Situation immer wieder reproduzierbar. Therapeutisch nutzt man den Umstand, dass die Facetten gut zu erreichen sind. Facetteninfiltrationen können in leichteren Fällen den Verschleiß für lange Zeit beruhigen. Bei hartnäckigem Verlauf kann eine Facettenkoagulation erfolgreich sein und die Beschwerden für ein bis zwei Jahre lindern. Gerade bei der Facetten­arthrose ist es wichtig, neben der symptomatischen Behandlung der Fassette die zu Grunde liegende Fehlbelastung zu identifizieren und parallel zu therapieren, bspw. durch Bauchmuskeltraining zur Korrektur einer Hyperlordose. Auch bei der Facettenarthrose ist das Beibehalten einer dynamisch angepassten­ Belastung durch adäquate Bewegung für den Heilungsprozess elementar. Konsequent behandelt ist die Prognose einer Facettenarthrose­ recht gut und muss einer sportlichen Karriere nicht im Wege stehen.

Spondylolyse/Spondylisthesis

Ein angeborener oder erworbener Wirbel­bogendefekt führt dazu, dass die Verschiebestabilität der Wirbelsäule nicht mehr gewährleistet ist: Ein Wirbel gleitet nach vorne und drückt in den Wirbelkanal. Dies führt charakteristischerweise zu tief sitzenden und auch pesudoradikulären Beschwerden. Sollte ein Bauchmuskeltraining keine Besserung ergeben, ist eine operative Stabilisierung indiziert. Belastungsentsprechend ist die Spondylolyse bei Sportarten, die vermehrt ein Hohlkreuz benötigen (Turnen, Volleyball, Butterflyschwim­men), häufiger als bei anderen Sportarten bzw. in der Normal­bevölkerung.

Spinalkanalstenose

Kommen verschiedene der o.g. Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule zusammen, wird der Platz im Spinalkanal zu eng. Symptome sind in die Beine ausstrahlende Schmerzen, Missempfindungen oder Sensibilitätsverlust, Kraftverlust und in schweren Fällen Inkontinenz. Dieses Krankheitsbild ist eher eine Erkrankung des höheren Alters und bei Sportlern ausgesprochen selten. Als Therapie bleibt oft nur eine operative Eröffnung des Spinalkanals, die Prognose ist schlecht.

Erosive Osteochondrose – oft verkannt?

Ein nicht nur bei Sportlern recht unbekanntes­ und oft auch diagnostisch übersehenes Krank­heitsbild ist die erosive Osteochondrose. Sie zeigt sich bei 43?% der Rückenschmerz­pa­tien­ten gegenüber 6% der Menschen, die nicht über Rückenschmerzen klagen, und ist meistens mit anderen Verschleißerkrankungen­ kombiniert. Die erosive Osteochondrose bezeichnet eine zunehmende Verschmälerung des Bandscheibenraums mit assoziierter Entzündungsreaktion im angrenzenden Knochen­ der Wirbelkörperendplatten, zunehmender Sklerosierung und möglicher Ausbildung von Spondylophyten. Diese Veränderungen gleichen arthrotischen Erscheinungen anderer großer Gelenke.

Ähnlich wie dort unterschei­det man ein aktiviertes und inaktiviertes Stadium­ der erosiven Osteochondrose. Die Patho­ge­nese ist ein multifaktorielles Geschehen aus langjährigen Überlastungen bei vorbestehenden anderen Strukturdefekten. Insbesondere bei Instabilität eines Bewegungssegments kommt es zu Scherbewegungen und Druck auf den Knochen-Knorpel-Übergang des Zwischenwirbelraums. Andere ursächliche Faktoren sind chronische statische oder dynamische Fehlbelastungen bei Dysbalancen und Blockier­ungen sowie die verschleißbedingte Höhen­min­der­ung der Bandscheiben nach Flüssigkeitsverlust.­ Charakteristisch sind tief sitzende, dumpfe axiale Schmerzen in der LWS, verstärkt morgens am Folgetag einer stärkeren Belastung. Diese können sehr wechselhaft sein. Sie sind oft erträglich und bessern sich bei zunehmender Bewegung oder wenn der Körper im Training oder Spiel „warm“ wird.

Fatalerweise­ verleitet dies dazu, sich über die meist wenig intensiven Symp­tome jahrelang hinwegzusetzen. Aufgrund der unspezifischen, transienten Symp­tome und bei fehlender konkreter Traum­anamnese ist eine rein klinische Diagnosestellung schwierig. Diagnostisch wegweisend kann hier das Röntgenbild sein, das typische morphologische Veränderungen mit „unruhigen­“, sklerosierten Deckplatten und verschmälertem Zwischenwirbelraum aufzeigt. Entscheidend für die Einteilung in das aktivierte bzw. nicht aktivierte Stadium der ­Arthrose und damit für die Prognose ist jedoch das MRT, in dem sich das hierfür richtungsweisende Knochenmarksödem im Wirbelkörper darstellen lässt (Klassifikation nach Modic; s. Tabelle).

Die Behandlung der erosiven Osteochondrose führt im Gesamtkonzept in ein therapeutisches Dilemma. Aufgrund der entzünd­lichen Natur des Prozesses erfordert die erosive Osteochondrose unbedingt Bewegungsruhe. Eine intensive Trainingstherapie, insbesondere Krafttraining an Hanteln oder Geräten, verschlimmert die Situation. Wegen der Beschwerdebesserung unter Bewegung (s.o.) ­be­steht hier die Gefahr, den Prozess durch Fehlverhalten zu verschlechtern.

Ist die erosive Osteo­chondrose einmal erkannt, ist die Einhaltung adäquater Ruhe jedoch schwer umzusetzen, da in der Regel eine Komorbidität mit anderen Wirbelsäulenerkrankungen­ besteht, die im Gegensatz dazu ein gezieltes Kräftigungsprogramm erfordern. Insbesondere für einen Leistungssportler kann die Diagnose einer erosiven Osteochondrose daher das Karriere­ende bedeuten. Die Heilungszeit beträgt oft viele Monate, wenn nicht sogar Jahre. So musste Beach-Volleyball-Olympiasieger Jonas Recker­mann, der vor wenigen Monaten seine Karriere beendete, 2006 wegen der erosiven Osteochondrose eine ganze Saison pausieren.

Zur Überwindung der entgegenstehenden physiotherapeutischen Erfordernisse profi­tieren­ meine Patienten von dem Kompromiss eines sanften isometrischen Übungsprogramms mit leichter Ausdauertherapie (z.B. Nordic Walking), das jedoch bei auftretenden Schmerzen in der Wirbelsäule konsequent gestoppt wird. Unterstützende Therapien wie para­ver­tebrale Injektionen und nicht steroidale Antiphlogistika bringen nur eine sehr kurze Besserung der Beschwerden. Bei hartnäckigem­ Verlauf können operative Therapien notwendig­ werden: entweder die Implantation einer Bandscheibenprothese oder die operative dorsoventrale Stabilisierung des betroffenen Wirbelsäulenabschnittes. In der Literatur zunehmend beachtet und bei vielen meiner Patienten mit gutem Erfolg angewendet ist alternativ die Röntgentiefenbestrahlung.

Hierbei werden z.B. mit einem Linearbeschleuniger gezielt 5Gy, verteilt auf zehn Sitzungen à 0,5Gy, auf die betroffenen Segmente gegeben. Die Röntgentiefbestrahlung ermöglicht eine präzise lokale Therapie der aktivierten Osteochondrose und kann lange bestehende Beschwerden oft innerhalb von wenigen Wochen lindern. Den Vorteilen einer nicht operativen Therapiemethode ohne Nachbehandlungszeit stehen die Nachteile der Anwendung ionisierender Strahlen gegenüber, die Indikationsstellung sollte daher sorgfältig erfolgen. Insgesamt halte ich diese Methode aber in vielen Fällen für erfolgreicher und nebenwirkungsärmer als eine Versteifungsoperation.

Was tun? Stichwort Prävention

Wie immer ist es natürlich am besten, wenn es erst gar nicht zum Verschleiß kommt. Präventiv günstig wirken sich gezielte Wirbel­säulen­gymnastik und stabilisierende Übungen auf den Progress des Wirbelsäulenverschleißes­ aus, wie Bartolozzi mit einer Untersuchung an 45 Profivolleyballspielern zeigen konnte. 44% der Sportler wiesen mit längerer sportlicher Aktivität einen Verschleiß­ der Wirbelsäule auf, z.B. als Flüssigkeitsverlust der unteren Bandscheiben. Diese degenera­tiven Ver­änder­ungen konnten durch Integration eines regelmäßigen Wirbel­säulentrainings in das wöchentliche Trainings­programm signifikant­ um 62% vermindert werden.

Zusätzlich erscheint es wichtig, funktionelle Bewegungsstörungen der Wirbelsäule­ – Blockierungen, muskuläre Dysbalancen, Verkürzungen und fasziale Veränderungen – frühzeitig zu erkennen und strikt zu therapieren. Meiner Erfahrung nach kommt dem Hüftgelenk, das durch häufige Verkürzungen des Psoas mit Beckenkippung und assoziierter statischer Fehlbelas­tung der LWS empfindlich belastet wird, eine zentrale Bedeutung zu.

Fazit

Zusammenfassend stellt die erosive Osteochondrosis eine häufige und oft übersehene degenerative Wirbelsäulenerkrankung bei Sportlern dar. Die Therapie erfordert Schonung und stellt im Gesamtbehandlungskonzept ein therapeutisches Dilemma dar. Durch eine konsequente sportmedizinische und sportphysiotherapeutische Begleitung des Athleten ist eine effektive Prävention jedoch möglich und Dauerschäden können vermieden werden.

Autor: Dr. med. Antonius Kass

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